Weiterlesen: Maeder Strafvollzug
© ProLitteris, Joachim Nelles
Joachim Nelles und Andreas Fuhrer
Drogen im Strafvollzug. Problematik und Ansätze für einen risikoärmeren Umgang
Einführung
In nur dreißig Jahren, zwischen 1965 und 1994, stieg in der Schweiz die jährliche Zahl der Verurteilungen nach dem Betäubungsmittelgesetz von anfänglich 9 auf 9055 Fälle, darunter 2999 unbedingte Freiheitsstrafen (Estermann 1997). In deutschen Gefängnissen sitzt rund ein Viertel der Gefangenen wegen Verstößen gegen das Drogengesetz ein (Quensel 1997). Diese beiden Beispiele spiegeln die sich seit den 60er Jahren abzeichnende internationale Tendenz, mehr und mehr Personen wegen Drogendelikten oder Beschaffungskriminalität zu verurteilen – eine Entwicklung, die einerseits auf die zunehmende Verbreitung illegaler Drogen zurückzuführen ist, andererseits aber auch als Folge der drogenpolitischen Repressionsstrategie gewertet werden muss (ausführlich für die Schweiz: Estermann et al. 1996).
Ein Großteil der drogenbedingt Inhaftierten ist selbst drogenabhängig, ja gerade aufgrund der eigenen Sucht, etwa wegen illegalen Drogenkonsums oder durch Beschaffungsdelikte, erst straffällig geworden. Die meisten von ihnen finden Mittel und Wege, den Drogenkonsum im Gefängnis fortzusetzen. Die wenigen verfügbaren Untersuchungen belegen eine massive Überrepräsentation Drogenabhängiger und -konsumierender unter Straffälligen. So sind gemäß einer Erhebung des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik 25 bis 50% der Insassinnen in Schweizer Gefängnissen drogenabhängig (Koller 1997). In der weiter unten dargestellten, in der Frauenstrafanstalt Hindelbank durchgeführten Studie wurde ein Anteil von Heroin- und Kokainkonsumierenden von 40% gefunden, von denen wiederum über 80% im Gefängnis den Konsum von Heroin oder Kokain fortsetzten. Diese Größenordnungen stehen beispielhaft für viele Strafanstalten in Industrieländern, d.h. es muss von erheblichen Anteilen intravenös Drogen konsumierender Gefängnisinsassen ausgegangen werden (Tabelle 1). Der Umstand, dass Drogenkonsumentlnnen aufgrund ihres suchtspezifischen Verhaltens während des Vollzugs häufiger keine vorzeitige Entlassung gewährt wird, akzentuiert die Situation noch.
Tabelle 1: I.v. Drogenkonsum im Gefängnis im internationalen Vergleich
Land Zeitraum Prozent Quelle
Australien 1989-1993 36-46 Crofts 1995, Gaugwhin 1991
Kanada 1989-1994 30-50 Jürgens 1994, Rothon 1994
Italien 1991-1992 19-32 Ceretti 1994
Niederlande 1989 33 Moerings 1994
Norwegen 1989 44 Scherdin 1994
Schottland 1991-94 18-27.5 Bird 1992, Gore 1995, Power 1992, Shewan 1993, Taylor 1995
Spanien 1989-1994 44 Basoco 1994
USA 1985-1993 40-80 Brewer 1992, Hammett 1994, Minshall 1993, Pagliaro 1992, Vlahov 1993
Die Angaben betreffen jeweils nur den Personenkreis, der mit der entsprechenden Untersuchung erfasst wurde. Die Daten sind infolge der sehr unterschiedlichen Stichprobengrößen nur bedingt vergleichbar. In der Regel stammen die Resultate nicht aus flächendeckenden Studien, sondern aus einem oder mehreren Gefängnissen eines Landesteils. Die Prozentzahlen zum Drogenkonsum beziehen sich auf die Insassen-Gesamtpopulation.
2. „Harm Reduction“ innerhalb und außerhalb der Gefängnisse
Drogenkonsum ist im Zuge seiner Kriminalisierung zu einem Hauptproblem vieler Gefängnisse geworden. Wesentlich mit dazu beigetragen hat der praktische Ausschluss einer Reihe von effizienten, außerhalb von Gefängnissen bewährten gesundheitsorientierten Angeboten im Strafvollzug. Parallel zum Repressionsprimat, das seit den 20er Jahren die US-amerikanische, spätestens seit den 60er Jahren auch die europäische Drogenpolitik dominiert (Springer 1992), hat das Gesundheitswesen mit dem Konzept der „Risikominderung“ (engl. „Harm Reduction“) ein praxisorientiertes Präventionskonzept etabliert. Den Drogenkonsumentinnen stehen außerhalb der Gefängnisse vielerorts Angebote zur Verfügung, die nicht unmittelbar auf die Therapie der Sucht und auf Drogenabstinenz abzielen, sondern vermeidbare, illegalitätsbedingte gesundheitliche Begleitrisiken des Drogenkonsums minimieren, insbesondere die Gefahr der Übertragung von Infektionskrankheiten. Zu diesen Angeboten zählen die Abgabe von sterilem Spritzenbesteck, Desinfektionsmitteln und Kondomen (DrogenkonsumentInnen stellen hinsichtlich des sexuellen Risikoverhaltens, vor allem wegen ungeschützter sexueller Kontakte, eine besonders gefährdete bzw. gefährdende Gruppe dar), die Anleitung zum sicheren Drogengebrauch, die Einrichtung von Fixerräumen sowie die Verschreibung von Methadon und in jüngerer Vergangenheit von Heroin und Morphin. Diese Maßnahmen, einschließlich der Betäubungsmittelverschreibung, werden in der Schweizer Öffentlichkeit mehrheitlich befürwortet (Gutzwiller 1997).
Innerhalb der Gefängnismauern hingegen wurden risikomindernde Drogenstrategien bislang kaum eingeführt (Nelles et al. 1995). In vielen Gefängnissen ist bereits die Abgabe von Kondomen umstritten. Schon der Besitz von Injektionsmaterial ist nicht erlaubt und wird sanktioniert; sterile Spritzen sind für Abhängige im Gefängnis noch schwieriger erhältlich als die Betäubungsmittel selbst. Ein Gefängnisaufenthalt beinhaltet für die Insassinnen wegen des Tauschs mehrfach benutzter Spritzen und infolge ungeschützter sexueller Kontakte ein massiv erhöhtes Risiko für Infektionsübertragungen. Die Prävalenzen von HIV-Infektionen, aber auch von viraler Hepatitis (und deren potentiell lebensbedrohlichen Formen B und C) unter Gefangenen erweisen sich, soweit überhaupt bekannt, als um ein Vielfaches höher als in der Normalbevölkerung und sind bei Drogenkonsumentinnen mit Hafterfahrung signifikant höher als bei solchen ohne Hafterfahrung (BAG 1993, Harding et al. 1990, Kleiber 1990, Koch et al. 1992, Müller et al. 1994). Für HIV-Übertragungen im Gefängnis existiert heute wissenschaftliche Evidenz (Taylor et al. 1995; Dolan et al. 1994; Überblick zum internationalen Forschungsstand bei Dolan 1997). Angesichts des Umstandes, dass Gefängnisse alles andere als abgeschlossene Systeme darstellen (hohe Durchlässigkeit infolge höheren Anteils an Kurzstrafen, Urlauben, Verlegungen und vorzeitigen Entlassungen) sowie im Zuge von Beschaffungsprostitution sind längerfristig, weit über den engen Kreis der Straffälligen hinausgehend, breitere Bevölkerungsgruppen von diesen Risiken mitbetroffen. Gefängnisse müssen deshalb als eigentliche Angelpunkte für die Verbreitung von Infektionskrankheiten bezeichnet werden (Dolan 1997).
In der Schweiz sind unter dem Eindruck des Auftretens von AIDS immerhin einige gesundheitspolitisch motivierte Maßnahmen auf die Gefängnisse ausgedehnt worden. Seit 1986 führten mehr und mehr Anstalten die Abgabe von Kondomen ein. Es folgte die Zurverfügungstellung von Desinfektionsmitteln und die Einführung der Methadonverschreibung für drogenabhängige Gefangene. Ab 1992 wurden in der Kantonalen Strafanstalt Oberschöngrün (Kanton Solothurn) vom ärztlichen Dienst sterile Injektionsspritzen an drogenkonsumierende Insassen abgegeben. 1994/95 fand in der Frauenstrafanstalt Hindelbank ein Pilotprojekt zur Drogen- und HIV-Prävention statt, das die freie Zugänglichkeit steriler Spritzen über eins-zu-eins-Austauschautomaten mit ein schloss. Spritzen werden seither in Hindelbank als fester Bestandteil der gefängniseigenen Präventionsmaßnahmen weiter abgegeben. Seit 1995 wird in der Strafanstalt Oberschöngrün im Rahmen des schweizerischen Versuchsplans zur ärztlichen Verschreibung von Betäubungsmitteln Heroin zur intravenösen Applikation unter Aufsicht an eine Auswahl drogenabhängiger Insassen abgegeben. Im Basler Gefängnis Schällemätteli konnten im Rahmen eines Pilotprojekts Insassen bis März 1997 Methadon unter ärztlicher Aufsicht intravenös applizieren. In der kantonalen Anstalt Realta (Graubünden) werden seit Februar 1997 Spritzen in einem Austauschautomaten abgegeben.
3. Das Pilotprojekt in Hindelbank
Mit dem in der Frauenstrafanstalt Hindelbank 1994 realisierten Pilotprojekt zur Drogen- und HIV-Prävention wurde erstmals die freie Abgabe steriler Injektionsspritzen und -nadeln (zusammen mit einem Paket präventiver Begleitmaßnahmen) unter den Bedingungen des Strafvollzugs systematisch erprobt. Gewiss besteht in diesem Frauengefängnis mit nur knapp 100 Insassinnen eine spezielle Strafvollzugssituation, dennoch weist das Projekt in zweierlei Hinsicht exemplarischen Charakter auf: erstens in Bezug auf seine wechselhafte Entstehungsgeschichte und zweitens hinsichtlich der Ergebnisse, welche sich – letztlich unspektakulär – weitgehend mit Erkenntnissen aus Untersuchungen außerhalb der Gefängnisse decken. Diese beiden Aspekte sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden.
3.1 Entstehungsgeschichte
Das Thema „Sucht“ wurde erstmals in den Jahresberichten der Anstalt Hindelbank von 1957-1962 erwähnt, damals allerdings noch im Zusammenhang mit zu hoher Medikamentenverschreibung. Erst in den Jahresberichten von 1968 bis 1978 war von zunehmenden Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz die Rede. Bereits in der nächsten Berichtsperiode (1979 bis 1982) nahm das Drogenproblem einen auffälligen Platz in der Darstellung ein. Erstmals kamen Drogenschmugglerinnen mit langen Freiheitsstrafen nach Hindelbank. 1983 bis 1985 wurde das Konzept des Betreuungsvollzugs umgesetzt, man sprach von „drogenkranken“ Insassinnen. 51% der Insassinnen wurden wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz eingewiesen, die Hälfte dieser Frauen hatten starke Suchtprobleme. In der Berichtsperiode 1990 bis 1993 ist nachzulesen, dass in der Belegschaft eine große Verunsicherung zu spüren sei. Nach zwei Todesfällen von drogenabhängigen Insassinnen Anfang 1991 beginnen die konkreten Vorbereitungen zum Pilotprojekt „Aids-Prävention und Spritzenabgabe“ in Zusammenarbeit von Polizeidirektion, Anstaltsleitung und Bundesamt für Gesundheit.
Diesem letzten Schritt vorausgegangen waren Anstrengungen von Drogenfachleuten, Spritzenabgabe auch innerhalb der Gefängnisse zu ermöglichen. Die Anstaltsleitungen aus den drei schweizerischen Strafvollzugskonkordaten sprachen sich damals noch grundsätzlich gegen eine Abgabe von Spritzen im Gefängnis aus. (1) Richtlinien zur Aids-Problematik in Gefängnissen und ähnlichen Institutionen (2) enthielten allerdings den Hinweis, dass von ärztlicher Seite empfohlen werde, Drogenabhängigen den Bezug von sterilem Injektionsmaterial zu ermöglichen.
Im Zuge der anwachsenden Aids-Problematik war es ein Anliegen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Fachkreise für das Drogen- und Aidsproblem in den Vollzugsanstalten zu sensibilisieren. Auf Einladung des BAG trafen sich im Juni 1989 Gefängnisärzte, Fachleute für das Gesundheitswesen und Gefängnisdirektoren aus der ganzen Schweiz zu einem Austausch über das Thema „Aids“. Im Auftrag des BAG führte Harding zur gleichen Zeit in 17 Vollzugseinrichtungen der Schweiz die Untersuchung „Aids im Strafvollzug“ durch (Harding et al. 1990). Die Ergebnisse dieser Studie wurden im März 1991 bei einer Veranstaltung des BAG in Bern einer interessierten Fachöffentlichkeit vorgestellt. Stimmen für eine Prävention inklusive Spritzenabgabe waren zu diesem Zeitpunkt erst vereinzelt zu vernehmen.
ln Hindelbank selber wurden die Verhältnisse bezüglich Drogenkonsum, Risikoverhalten und Gesundheitszustand der Frauen (Todesfälle, wiederkehrende Überdosierungen, Spritzenabszesse, Spritzentausch mit erhöhtem Infektionsrisiko) immer prekärer, so dass der Gefängnisarzt gemeinsam mit den Angestellten des Gesundheitsdienstes im Mai und Juni 1991 eine informelle Erhebung über Drogenkonsum und Risikoverhalten der Insassinnen vornahm. Die besorgniserregenden Resultate leitete er, verbunden mit dem Antrag auf Bewilligung einer kontrollierten Spritzenabgabe, an die Polizeidirektion und den Kantonsarzt des Kantons Bern weiter. (3) In Zusammenarbeit von BAG, den Anstalten in Hindelbank und der Polizeidirektion des Kantons Bern entstand in der Folge ein erstes Arbeitspapier
„Pilotprojekt Aidsprävention in Hindelbank“. Im März 1992 wurden die Konzeption des Projekts und der Begleitevaluation in Auftrag gegeben.
Eine Voruntersuchung beim Anstaltspersonal ergab, dass die Akzeptanz der geplanten Maßnahmen bei denjenigen Angestellten, die in engem Bezug mit den Insassinnen arbeiten, besonders hoch war. Diese Gruppen drängten in der Folge auch besonders nachdrücklich auf eine rasche Installation des Projekts. Es schienen somit gute Voraussetzung für eine Umsetzung zu bestehen. Auf politischer Ebene erwuchsen dem Projekt aber noch einige Schwierigkeiten. Erst im September 1993 hat letztlich der Neunerausschuss, ein vorberatendes Gremium der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, den Projektentwurf mehrheitlich zustimmend zur Kenntnis genommen. Nachdem der Polizeidirektor des Kantons Bern den offiziellen Auftrag zur Realisierung erteilt hatte, konnten die erforderlichen Schritte zur Umsetzung unternommen werden. Die Evaluation setzte mit der ersten Erhebung am 19.5.1994 ein; rund einen Monat später begann die Präventionsarbeit mit dem Aufstellen von je einem Spritzentauschautomaten in den sechs Abteilungen der Anstalt.
Die Entstehungsgeschichte des Pilotprojekts von Hindelbank ist bezeichnend für die zaghafte Entwicklung der Gesundheitsvorsorge im „Niemandsland zwischen (… ) Gesundheitswesen und Kriminaljustiz“ (Harding 1997). Nur verzögert gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung wurde das Drogenproblem auch für die Verantwortlichen des Strafvollzugs zu einem Thema, und pragmatische Gesundheitsstrategien wurden von den Justizbehörden lange abgelehnt. Erst das dezidierte Engagement aus den Kreisen des Gesundheitswesens, das heisst von Mitarbeiterlnnen des Bundesamtes für Gesundheit einerseits und vom Gesundheitsdienst der Anstalt andererseits, hat die Realisierung des Projekts in Hindelbank ermöglicht.
3.2. Ausgewählte Ergebnisse
Das Pilotprojekt in der Anstalt Hindelbank umfasste, neben der Spritzenabgabe, auch Informationsveranstaltungen im Plenum und in Gruppen, ärztliche und nichtärztliche Sprechstunden und das Auflegen von Informationsschriften. Ein Forschungsteam der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern führte die externe Evaluation durch (Nelles et al. 1997). Zu vier Zeitpunkten (unmittelbar vor sowie drei, sechs und zwölf Monate nach Einsetzen der Prävention) wurden die Insassinnen und teilweise das Personal systematisch befragt. Von den Insassinnen nahmen 85% an den Interviews teil. Die so gewonnenen Daten zu Drogenkonsum, Risikoverhalten, Akzeptanz des Projekts usw. wurden ergänzt u.a. durch Ergebnisse medizinischer Untersuchungen, Zahlen zum Spritzenbezug sowie Daten über die anstaltsinternen Sanktionen.
Die Spritzenabgabe wurde sehr gut genutzt: 5335 Spritzen sind während der einjährigen Pilotphase an den Automaten bezogen worden, dies bei einem durchschnittlichen Insassinnenbestand von 87±6 Personen. In Zeiten mit geringeren Spritzenbezügen gingen auch die drogenbedingten anstaltsinternen Sanktionen (z.B. wegen positiver Urinkontrollen) zurück, d.h. Spritzen wurden dann bezogen, wenn auch Drogen verfügbar waren. Zweckfremde Verwendungen wurden nicht registriert. Die Spritzenabgabe führte im Anstaltsalltag nicht zu Schwierigkeiten; die freie Abgabe hat sich als machbar erwiesen. Die Häufigkeiten von Drogenüberdosierungen oder Todesfällen im Zusammenhang mit Drogenkonsum ist nicht angestiegen. Abszesse, zurückzuführen auf Drogenkonsum innerhalb der Anstalt, wurden im Laufe des Projektes keine mehr beobachtet. Die Maßnahmen in der Anstalt Hindelbank haben sich als machbar erwiesen. Ein Hauptziel des Projekts, die Verminderung von Infektionsrisiken durch Mehrfachgebrauch von Injektionsbesteck, wurde klar erreicht. Unmittelbar vor Beginn des Projekts gaben 8 von 65 befragten Insassinnen an, mit z.T. mehreren Personen Spritzen getauscht zu haben; nach zwölf Monaten war es noch eine von 57 befragten Insassinnen, die Spritzen mit einer Freundin tauschte. Im gleichen Zeitraum hat sich die Anzahl der Konsumentinnen von Heroin oder Kokain von 25 auf 13 verändert, darunter 19 respektive neun Insassinnen, welche die Substanzen intravenös applizierten. Der Drogenkonsum hat (auch unter Berücksichtigung der Konsumfrequenz) im Zuge der Spritzenabgabe nicht zugenommen; das Muster der Applikationsformen für Heroin und Kokain ließ keine systematischen Veränderungen erkennen.
Tabelle 2: Konsum von Heroin und Kokain (alle befragten Insassinnen, n=137)
jemals im Leben im Monat im Gefängnis
regelmäßig vor Eintritt
Anzahl Anzahl Anzahl
Heroin 10 10 24
Kokain 6 8 2
Heroin und Kokain 46 35 19
Total 62 53 45
Freiwillige Blutanalysen, bei 94 Insassinnen durchgeführt, ergaben in sechs Fällen positive HIV-Befunde, fünf lnsassinnen wiesen eine aktive Hepatitis B auf. Insgesamt 53% (50/94) der Tests fielen positiv auf Hepatitis B, 37% (35/94) positiv auf Hepatitis C aus. Das Risiko der Übertragung von HIV oder viraler Hepatitis ist als hoch anzusehen. Diese Tatsache wird zusätzlich durch den hohen Anteil von Heroin- und Kokainkonsumentinnen unter den Insassinnen unterstrichen (Tabelle 2). Heroin und Kokain wurden überwiegend intravenös konsumiert. 45% der 137 befragten Insassinnen hatten früher regelmäßig Heroin oder Kokain konsumiert, 33% gaben im Laufe des Pilotprojekts an, auch im Gefängnis Heroin oder Kokain zu konsumieren. Dabei war der Anteil der Drogenkonsumentinnen um so höher, je länger sich die Frauen zum Zeitpunkt der Befragung bereits in der Anstalt befanden.
Die Evaluationsstudie zum Pilotprojekt von Hindelbank bestätigt, was bereits Untersuchungen außerhalb der Gefängnisse ergeben haben: Spritzenabgabe ist eine geeignete Maßnahme, den Tausch von Injektionsmaterial unter Drogenkonsumierenden und damit das Risiko von Neuinfektionen wirksam zu verringern. Die Ergebnisse zum Drogenkonsum und zur Infektionsprävalenz machen schon in dieser nur kursorischen Darstellung deutlich, wie notwendig eine wirkungsvolle Infektionsprophylaxe und damit verbunden die Aufwertung gesundheitspolitischer Aspekte gegenüber dem Repressionsprinzip auch im Strafvollzug ist. Aufgrund der gesamthaft positiven Ergebnisse des Pilotprojektes wurde die Spritzenabgabe in Hindelbank fest installiert. Zur Wahrung notwendiger begleitender Präventionsbemühungen wurde eigens eine Gesundheitsschwester in Teilzeit angestellt.
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Anmerkungen
1 Informationen über den Straf- und Massnahmenvollzug, Bundesamt für Justiz, 1987, Nr. 4, S. 4.
2 1986 herausgegeben von der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, der Eidgenössischen Fachkommission für Aids-Fragen und dem BAG.
3 Dr. med. Martin Bachmann, Hindelbank, ,“Drogenkonsum, Spritzentausch, Spritzenabgabe in den Strafanstalten Hindelbank“; Schreiben vom 4.7.1991.